Ute Stefanie Strasser
Durch unsere kleine Stadt
FLANIEREN SPAZIEREN
ERKUNDEN ENTDECKEN
Wer niemals seine Schritte nach Judenburg lenkte, nie in Fohnsdorf gewesen ist, wer nie nach Murau fuhr, auch nicht nach Rattenberg, Weißkirchen, Obdach, nie in Pöls nächtigte, wer schließlich kaum zu sagen wüsste, wo genau auf der Landkarte Oberwölz zu finden ist, der wird, wenn er ein Kleingeist oder ein bornierter Großstädter ist, nur müde lächeln und abwinken; ist er aber verständig, so ahnt er: auch dort ist die Welt. Und mag es sich auch nicht um London, Paris oder New York handeln – es braucht nicht mehr, als in jenen Orten vorhanden ist, um eine Welt zu erschaffen.
Nach Jan Wagner: Der verschlossene Raum
Der Dichter teilt mit dem Kind die Offenheit seiner Weltteilnahme. Wie das Kind nimmt der Schriftsteller Kontakt mit Details und Dingen auf. Er muss in der Lage sein, mit diesen in längere Versenkungsphasen einzutauchen, auch wenn nicht klar ist, worin sich der poetische Mehrwert einer Versenkung zeigen wird. Mit einer gewissen somnambulen Sicherheit suchen Kinder und Dichter das Poetische an seinen Nistplätzen auf und eröffnen Verhältnisse der freundlichen Belauerung. In den Dingen ist Magie, in den Dichtern ist Magieerwartung.
Wilhelm Genazino: Die Belebung der toten Winkel
Diese gefühlte Anwesenheit von „Geistern“, die aus einem physikalischen Ort einen beseelten Raum machen, gehört zu unserer Erfahrung von Städten. Dabei denken wir nicht nur an die persönlichen Geister der MEMORIA, sondern vor allem an die Geister der HISTORIA, die sich unauslöschbar eingeschrieben haben in die Materialität der Stadt.
Rolf Lindner: In einer Welt von Fremden
Als Folge der Einschränkungen im sozialen und kulturellen Bereich, verursacht durch ein hochansteckendes Virus, sind Spazierengehen und Flanieren wieder en vogue, auch in den Feuilletons der Zeitungen. Seit bald einem Jahr flanieren wir. Der Spaziergang ersetzt während des Lockdowns den Kaffeehausbesuch, das Theater, das gemeinsame Abendessen mit Freunden, schreibt die Autorin Al-Serori in der Süddeutschen Zeitung (SZ im März 2021). Diesem Trend habe ich mich angeschlossen und beschlossen Judenburg flanierend und spazierend zu erkunden und davon zu erzählen. Das Buch soll kein Stadtführer im üblichen Sinn werden sondern ein persönlicher Erlebnisbericht, der mit meinen Runden durch die Innenstadt im Herbst 2020 beginnt.
Warum ich den Namen unserer kleinen Stadt nicht in den Titel genommen habe? Weil viele meiner Beschreibungen und die sich daran anschließenden Überlegungen auch für andere kleine Städte gelten. Nicht nur hier hat man in den 1970er Jahren mit den Auslagerungen begonnen, hat Schulen, Arztpraxen und Geschäfte an den Stadtrand verlegt. Dort haben wir jetzt das Schulzentrum, das Ärztezentrum, das Einkaufszentrum, im Stadtzentrum ist nicht mehr viel los, es ist ein bisschen ein Durchgangszentrum – oder besser ein Durchfahrtszentrum geworden. Damit wieder was los ist, hat man mit punktuellen Belebungsmaßnahmen begonnen, ein Bauernmarkt am Samstag, ein Rummel-Fest am Wochenende. Aber das liebenswerte von Fußgängern auf kurzen täglichen Wegen belebte Kleinstädtische ist leider am Verschwinden.
Es gibt viele Aufzeichnungen von Flaneuren und Spaziergängern durch Städte wie Paris (Troller, Fargue), Berlin (Hessel), New York (Herbst), Frankfurt (Engelhardt), Königsberg (Miegel) und so weiter. Judenburg fehlt noch in der Liste, ich habe vor, diese bedauerliche Lücke zu schließen.
Bevor ich mich aufmache, durch unsere kleine Stadt zu gehen, möchte ich ein wenig über Flanieren und Spazieren sinnieren. Wen das nicht interessiert, der/die kann den Abschnitt getrost überblättern.
Flanieren und Spazieren werden häufig synonym gebraucht, als wären es bloß zwei verschiedene Wörter für die gleiche Tätigkeit. Zum Beispiel tut das die im Vorwort zitierte Al-Serori und sie tut das auch im Fortgang des Artikels, wenn sie betont, dass der Spaziergang in Deutschland nie denselben Stellenwert gehabt habe, wie die Passeggiata in Italien, die Flanierrunde des Sehen-und-gesehen-Werdens auf dem innerstädtischen Corso. Abgesehen davon, dass sie inhaltlich nicht recht hat, denn es gab dergleichen im neunzehnten Jahrhundert auch in Deutschland. Ich zitiere aus einem Buch von Benary-Isbert: Georg pflückte sich eine Rose oder Nelke für sein Knopfloch und begab sich auf die Schied, die Hauptstraße, die rund um die Innenstadt (von Limburg an der Lahn) lief und wo Abend für Abend die Jugend dahintrieb wie ein Strom. Und: Georg war recht niedergeschlagen. Bis auf weiteres gab es keinen Bummel auf der Hauptstraße, der Schied, mehr für ihn, wo zwischen fünf und sechs Uhr die reifere Jugend der Stadt promenierte. Also: Abgesehen davon, dass sie inhaltlich nicht recht hat, sind diese innerstädtischen Flanierrunden, meist in Grüppchen, um sich zu zeigen und zu schauen, wer sonst noch schaut und sich zeigt, weder ein reines Spazierengehen, sie haben auch nichts mit den Familienspaziergängen zu tun, die ich als Kind absolvieren musste, noch sind sie ein Flanieren in dem Sinn, wie ich es in Anlehnung an Franz Hessel, Schriftsteller und Flaneur um 1929 in Berlin, verstehe, nämlich als das langsame, absichtslose Gehen einer Person, des Flaneurs oder der Flaneurin, schöner: Flaneuse, in städtischer Umgebung. Flanieren ist nach Hessel eine Lektüre der Straße, wie man ein Buch lese, so könne man auch eine Straße lesen. Der Kurfürstendamm, sagt er, habe die hohe Kulturmission, den Menschen das Flanieren zu lehren. Nein, was Al-Serori und Benary-Isbert beschreiben ist kein Spazierengehen im üblichen Sinn und kein absichtsloses Flanieren sondern ein Promenieren, ein verschiedenen Zwecken (Heiratsmarkt) dienendes Schaulaufen. In gewisser Weise sind es also Erkundungsgänge, auf denen man vielleicht den Gefährten oder die Gefährtin fürs Leben entdeckt.
Sind heutzutage in den Städten unter den vielen Eiligen auf ihren Erledigungsgängen noch echte Flanierende unterwegs oder gibt es sie nur noch als literarische Figuren? Und wodurch unterscheiden sich Flanieren und Spazierengehen? Während der Spaziergang allein oder mit anderen und zum Zwecke der Gesundheit (Bewegung und UV-Licht) in der Stadt, im Park oder besser noch draußen in Wald und Flur und in der Regel mit einer gewissen Zeit- und Zielvorgabe unternommen wird, geht der Flanierende allein. Und er kennt dabei keinen anderen Zweck als den Augenschmaus, der belebt und gedanklich anregt. Wer flaniert, weiß nicht, wie lange und wohin er gehen und was ihm begegnen wird, doch er geht immer in städtischer, belebter Umgebung und achtet deshalb auf sein Äußeres.
Der in der Literatur beschriebene Flaneur kleidet sich gediegen bis elegant – Hut Seidenschal Lederschuhe – und gern trägt er als Requisit für den Auftritt (Zeh) Spazierstock oder Stockschirm. Das Stofftaschentuch steckt im Sakko, eine Tasche trägt er nicht und niemals würde er sich einen Fotoapparat umhängen. Der Spaziergänger kann in beliebiger Aufmachung unterwegs sein, etwa – für einen Flaneur undenkbar – in kurzen Hosen und mit Rucksack. Und Welten liegen zwischen Flaneuren und denen, die sich in Turnschuhen, löchrigen Jeans und labberigen T-Shirts durch die Gegend treiben lassen (was dem Flanieren ja nahe käme), neuerdings gar mit einer Bierflasche in der Hand, aus der sie ungeniert dann und wann einen Schluck nehmen. Abgesehen von der Kleidung – ein Flaneur isst oder trinkt nicht auf der Straße, er hält sich an die Sitten eines bürgerlichen Milieus, er isst bei Tisch.
Die gleichen Regeln gelten für die Flaneuse (Eichberger, Elkin), auch sie ist sorgfältig zurechtgemacht, nur darf sie etwas tragen. Nein, keine Aktentasche (Arbeit) und keinen Rucksack (Wanderung), auch kein Handtäschchen im angewinkelten Arm (uncool), wohl aber ein Umhangtäschchen mit diversen Utensilien wie dem Taschentuch und – ich will jetzt nicht alle Sächelchen aufzählen, die wir sehen könnten, würden wir in so ein Täschchen hineinschauen.
In literarischen Texten ist die Flaneuse unterrepräsentiert, denn traditionell ist die Frau eher die Hüterin des Hauses. Sie führt die Hauswirtschaft oder, wenn sie es sich materiell und intellektuell leisten kann, einen Salon in ihrem Haus, wie einst Rahel Varnhagen. Hören wir, was Abraham a Sancta Clara (1644-1709) Verwunderliches zu diesem Thema sagt: … es habe Gott nicht wollen, dass die Weiber sollen … reisen, sondern vielmehr zu Hause bleiben … Dessentwegen die Weiber an dem Zunamen allezeit ein IN tragen: Bettler-in, Bäuer-in, Bürger-in, Doktor-in, Gräf-in, Fürst-in etc., zu zeigen, dass sie in das Haus gehören. (Wirft ein ganz neues Licht auf das Gendern, nicht wahr?) Auch tragen sie gleichförmig den Titul FrauenZIMMER, wodurch sattsam erwiesen ist, dass sie sollen zu Hause bleiben.
Nun, heutzutage darf die Frau aus dem Haus hinaus, denn sie ist neben der Hauswirtschaft und der Kinderbetreuung auch berufstätig. Sie sitzt in einem Büro, an der Supermarktkasse, sie ist Polizistin Friseuse Lehrerin Ärztin und so weiter. Sie geht einkaufen, schiebt den Kinderwagen durch Straßen und Parks, führt den Hund aus, joggt zum Zwecke der Gesundheit. Doch noch immer gesteht man einer Frau, vor allem einer jungen, das Flanieren, das ziellose Umhergehen, nicht so ohne weiteres zu: Da geht die schon wieder, hat die nichts Besseres zu tun? (Sagt die Alte am Fenster über die Junge draußen.) Und noch vor nicht allzu langer Zeit war die Flaneuse vom Geruch der Prostitution oder zumindest der Kontaktsuche (Männer aufreißen!) umgeben: Eine allein gehende Frau blieb suspekt und unterlag fast automatisch dem Verdacht der Prostitution. Der öffentliche Raum stand beiden Geschlechtern nicht gleichermaßen offen (Al-Serori). Und wenn schon nicht vom Verdacht der Prostitution oder des Männerfangs so war sie doch zumindest von feministischer Attitüde umwölkt. Es war ein Akt der Emanzipation, ein Überschreiten der ihr zugeordneten Rolle, wenn sich eine Frau, elegant zurechtgemacht (pejorativ: aufgedonnert), allein flanierend in der Öffentlichkeit zeigte.
Spaziergänger, die alleine gehen, können ihren Gedanken nachhängen, sie wälzen und umwälzen, Lösungen finden, Entschlüsse fassen. Ich kann nur beim Gehen nachdenken. Bleibe ich stehen, tun dies auch meine Gedanken, schreibt Rousseau. Bei dieser Innenschau ist ihnen die Umgebung dann eher gleichgültig. Sie darf nur nicht stören, sie muss so weit wahrgenommen werden, dass man nicht über ein Hindernis stolpert oder in eines hineinrennt, in so ein gelbes Postkastl oder in einen Entgegenkommenden. Im Gegensatz dazu pflegen Flaneur und Flaneuse die Außenschau, wobei es selbstverständlich von ihrem Innenleben abhängt, was ihnen auffällt und was ihnen dazu einfällt. Im Idealfall beschert uns das Flanieren mit jedem Schritt einen Schritt ins Unbekannte, in einen bis dato vielleicht toten Winkel, den wir mit wachem Bewusstsein beleben (Genazino). Flanieren ist die Kunst, bei der Lektüre der Straße manch Gewöhnliches, wie etwa auf Leinen flatternde Wäsche, in etwas Ungewöhnliches zu transformieren und als etwas Besonderes zu würdigen.
Weil das Absichtslose ein zentrales Element des Flanierens ist, wird Flanieren oft in ganz andere Bereiche als den des langsamen Gehens eines Einzelnen in städtischer Umgebung übertragen. Zwei Beispiele: Ulrich Tukur (Schauspieler) sagt, dass er Restaurants, Wirtschaften und Kaffeehäuser liebe, und wörtlich: Ich flaniere gerne von Speisekarte zu Speisekarte. Das ist mein Lieblingssport (Das Leben ist Risiko, SZ, 16. 2. 2021). Ich nehme an, er meint, dass er von Gaststätte zu Gaststätte flaniert und sich in allen die Speisekarten anschaut. Und mit flanieren will er ausdrücken, dass er nichts Bestimmtes sucht. Meinen Widerspruch erregt allerdings die Bezeichnung seines Flanierens als Sport – das finde ich geradezu widersinnig. Michael Maar (Schriftsteller) spricht vom Flanieren durch die Bibliothek und meint damit wohl, dass er kein bestimmtes Buch sucht, sondern langsam durch eine Bibliothek streift und sich hier und da ein Buch aus dem Regal nimmt und darin schmökert.
Wenn ich es mir nun recht überlege, könnte ich das Flanieren auch als eine Unterart, als eine spezielle Art des Spazierengehens bezeichnen: Man spaziert allein und langsam, absichtslos und ziellos, unvoreingenommen und achtsam um sich schauend in städtischer Umgebung.
Und nun, liebe Leserinnen und Leser, dürfen Sie mich, wenn Sie mögen, auf meinen Gängen durch unsere kleine Stadt begleiten.
Los geht’s!