Fini

 

Marianne Leersch: Biographie meiner Mutter

 

Sankt Anna bei Obdach, ein kleines Bergdorf. Das erhabenste Gebäude ist die Kirche mit ihrem Friedhof. Der Pfarrhof nicht viel kleiner als der Annawirt. Neges, Geiger, Fuchs, Unterkogler, Grün, Kummer und noch einige mehr, alles Vulgonamen der kleinen und großen Bergbauernhöfe, die wie St. Anna zur Gemeinde Lavantegg zählten.

      Damals, als am 10. Mai 1907 beim Neges nach vier Mädchen der erstgeborene Sohn, Franz Sattler, das Licht der Welt erblickte. Eine der Geburten, die seine Mutter als Hebamme selbst erduldete. Damals, als beim Unterkogler Aloisia Moitzi, geboren im Jahr 1908, mit ihren Geschwistern heranwuchs.

      Jeder kannte jeden. Mit dem Heranwachsen begann die Brautschau. Fleißig sollte die Zukünftige sein, ein Erbteil war auch nicht zu verachten. Bauernsohn zu Bauerntochter, mit dem Segen der Eltern. Bei den regelmäßigen Kirchgängen und den wenigen Festen mit Musik trafen sie sich. Ein Hin- und Wegschauen, ein unbeholfenes Anreden, ein erstes Berühren. War es die Richtige? War es der, mit dem es sich lohnte eine Liebschaft einzugehen?

      Auch Aloisia Moitzi vom Unterkogler und Franz Sattler vom Neges kannten sich von klein auf. An den Händen der Mütter bei den ersten Kirchgängen waren sie sich zum ersten Mal begegnet. In der Schule, streng getrennt durch Buben- und Mädchenseite, lernten sie lesen, rechnen und schreiben. Beide kannten das arbeitsreiche Leben eines Bergbauernkindes, die einfachen Mahlzeiten, das Pflügen, Säen und Ernten, die zahlreichen Handgriffe, die Mühen und die Freuden.

      Aloisia war zweiundzwanzig, eine schöne, große, starke Frau, als sie dem ständigen Werben von Franz nachgab. Er war der Erstgeborene vom Bauernhof Neges, ein stattlicher Hof mit viel Vieh und Wald. Und so gebar sie mit Hilfe ihrer zukünftigen Schwiegermutter 1931 ihren ersten Sohn. Er wurde auf den Namen Franz getauft. Aloisia blieb mit ihrem Kind in ihrem Heimathaus, dem Unterkogler.

      Franz hätte sie gerne um sich gehabt, aber Aloisia weigerte sich. Unter einem Dach mit der zukünftigen Schwiegermutter, die eine harte, herrschsüchtige Frau war, ihren neuen Mann und den letztgeborenen Sohn aus dieser Verbindung immer bevorzugte, zu leben, war für sie unvorstellbar. Erst sollte Franz den Hof übernehmen, dann würden sie heiraten und Aloisia als Bäuerin zu ihm ziehen.

      Das Hofübernehmen zog sich hin. Franz arbeitete und wohnte weiter auf seinem Heimathof. Aloisia freute sich über die Geborgenheit auf ihrem Heimathof und über den kleinen Franz, der prächtig gedieh. Am 25. Februar 1933 kam nicht Franz um seine Aloisia und den Sohn zu besuchen, das Können seiner Mutter als Hebamme wurde wieder gebraucht. Der kleine Franz schlief noch selig, als seine Schwester in den frühen Morgenstunden geboren wurde. Noch am selben Tag wurde sie auf den Namen Josefine getauft. Nun war Aloisia die liebevolle Mutter von zwei Kindern und da ihre Schwester Viktoria auf ihrem Hof, vulgo Ofner, dringend Hilfe brauchte, zog sie mit den beiden Kleinen zu ihr. Der Bauernhof Ofner war zwar weiter entfernt als der Unterkogler, aber regelmäßig fand Franz nach getaner Arbeit Zeit seine Lieben zu besuchen.

 

*

„Mama, hol die Fini aus dem Bett, ich will ihr die neuen Kätzchen zeigen!“

      Ungeduldig zog der kleine Franz an der Schürze seiner Mutter. Er hatte im Stall das Versteck der Katze entdeckt und fünf maunzende Fellbündel gefunden. Fini war zwar erst ein Jahr alt, aber sie konnte schon laufen und wer laufen kann, ist groß genug um sich über die kleinen Katzen zu freuen, dachte Franz. Außerdem verfolgte ihn die kleine Schwester ohnehin den ganzen Tag.

      „Fini kann heute nicht aufstehen.“

      Die kleine Schwester stöhnte vor sich hin. Die Mutter versuchte mit Essigwickel den winzigen Körper zu kühlen. Fini war krank, schwer krank. Das Poliovirus hatte sich über die Blutbahn verteilt und die Nervenzellen befallen.

      Kinderlähmung! Wie ein Schreckgespenst stand das Wort im Raum. Das uralte Wissen um die Heilkraft der Kräuter, der Glaube an die Kraft des Gebetes, die fürsorgliche Liebe der Mutter, der Tanten, des Onkels und des Großvaters, sie vereinten sich und kämpften um das kleine Mädchen. Nach einiger Zeit klang das Fieber ab. Fini erholte sich, aber das Virus hatte seine Spuren hinterlassen. Finis linke Körperhälfte war gelähmt. Die kleinen Füßchen hatten sich nach innen gebogen. Das linke Ärmchen hing kraftlos herab.

      Physiotherapie war ein Fremdwort. Ihr Großvater Anton übernahm diese Aufgabe. Mit unendlicher Geduld kümmerte er sich um Fini. Er ließ die kleinen Hände Sand kneten, übte mit ihr immer wieder das Gleichgewicht zu halten, bis seine Enkeltochter wieder alleine sitzen konnte. Er nahm sie an den Händen und ließ sie Fuß vor Fuß setzen. Unermüdlich stützte und führte er sie. Allmählich kam wieder Kraft in den kleinen Körper. Die Schäden, die das Virus angerichtet hatte, konnten nie mehr vollständig behoben werden. Die Füße blieben nach innen gedreht und verursachten einen leicht hinkenden Gang. Der linke Arm blieb schwächer und der Daumen gelähmt.

      Ein arbeitsreicher Tag auf dem Bauernhof Ofner in Prethal reihte sich an den nächsten. Einem Frühling mit Pflügen, Eggen und Säen folgte ein Sommer mit Mähen, Heuwenden und Rechen, reifes Getreide wurde geschnitten und zu Garben gebunden. Herbst, die Zeit der Ernte. Erdäpfel klauben, Kraut einschneiden, das harte rhythmische Schlagen der Dreschflegel und mittendrin die kleine Fini mit ihrem großen Bruder. Drei Jahre und sechs Monate alt war Fini, als ihre Mutter ein schreiendes Bündel im Arm hielt.

      „Das ist deine Schwester Maria.“

      Vorsichtig streichelte Fini über den kleinen Kopf. Flaumig weich fühlten sich die Haare an.

 

*

Am 25. Februar 1937 wurde Finis vierter Geburtstag gefeiert. Als Geschenk gab es keine Puppe, kein Stofftier, kein Puppengeschirr oder Puppenhaus, alles Dinge, die Fini ohnehin nicht kannte. Es gab ein Paar selbstgestrickte Handschuhe von Tante Viki, eine selbstgestrickte Haube von Tante Agnes und einen Pullover mit Zopfmuster, auch selbstgestrickt, von der Mama. Nur der Opa hatte nichts Zweckmäßiges für sein geliebtes Enkelkind. Aus einem Stück Holz hatte er ein Pferd geschnitzt und zu dem Pferd noch ein kleines Pferd, ein Pferdekind. In eines seiner großen Taschentücher hatte er sein Geschenk eingewickelt. Es gab auch keine Geburtstagstorte mit vier Kerzen und einer Lebenskerze. Die Tante hatte einen Germteig zubereitet. Auf dem Herd brodelte das Schweineschmalz.

      Erwartungsvoll saßen die Kinder beim Tisch. Franz, Antonia und Peter, die Ofnerkinder und Franz und Fini, die zwar auf dem Bauernhof Ofner wohnten, aber keine Ofnerkinder waren, flankiert von der Mutter mit dem Baby Mitzi in den Armen auf der einen Seite und dem Großvater und Tante Agnes auf der anderen Seite.

      Es zischte, als Viktoria das erste Teigstück in das heiße Schmalz gleiten ließ, und noch einmal und noch einmal. Nach einigen Minuten drehte die Tante die Krapfen um, kurze Zeit später stellte sie die ersten Köstlichkeiten auf den Tisch, machte drei Schritte zurück zum Herd und ließ die nächsten Teigstücke in das brodelnde Schmalz gleiten.

      So etwas Gutes gab es nur selten, so etwas Gutes gab es an diesem Tag, weil sie, Fini, heute vier Jahre alt geworden war! Fini konnte es kaum erwarten zuzugreifen und in den warmen Krapfen zu beißen. Einen Vater, der auch am Tisch saß, gab es nicht. Der Vater der Ofnerkinder war gestorben und der Vater von Franz, Fini und Mitzi war auf seinem Heimathof mit dem Abfüllen von Saatgut beschäftigt. Fini lehnte sich an den Opa und stupste ihn.

      „Opa, der Krapfen wird kalt.“

      Bedächtig machte der Großvater das Kreuzzeichen, griff nach einem Krapfen und teilte diesen. Der Krapfen dampfte und aus dem Krapfen dampfte es noch mehr. Der Opa blies und blies, zwischendurch führte er das heiße Gebäck an seine Lippen. Endlich war der Krapfen soweit abgekühlt, dass sich Fini nicht mehr daran verbrennen konnte. Lächelnd drückte er eine Hälfte in die Hand von Fini und die zweite Hälfte…? Seine Augen schauten die anderen Enkelkinder zärtlich an.

      „Zuerst die Jüngsten.“

      Er reichte Franz den halben Krapfen. Zeit ließ sich der Großvater, viel Zeit. Die Vorfreude der Kinder wurde mit dem Zuwarten immer größer, bis der Großvater endlich sagte:

      „Greift zu Kinder, sie sind nicht mehr heiß.“

      Von der Ofnermutter, der Tante Viki, die am Herd die nächsten Krapfen in das brodelnde Schmalz gleiten ließ, kamen die aufmunternden Worte:

      „Langt ruhig zu, Kinder, es sind noch genug da. Aber schaut, dass die Fini nicht zu kurz kommt, die hat heute Geburtstag.“

      Köstlich schmeckten die Krapfen und süß der Himbeersaft, der an diesem Tag großzügig verteilt wurde. Als sich Fini satt und zufrieden zurücklehnte, zog der Großvater sein Geschenk aus der Jackentasche und legte es vor Fini auf den Tisch. Noch ein Geschenk, ein Geschenk für sie! Neben Fini lag der Stoß mit den selbstgestrickten Sachen - Handschuhe, Haube, Pullover - und vor ihr, in ein Stofftaschentuch eingewickelt, noch etwas.

      Auf dem Hof wurde alles geteilt, das Brot, die Milch, Speck und Käse, selbst die Zärtlichkeiten der Mutter und der Tanten. Jedes Kind war gleich viel wert, aber heute, an ihrem Geburtstag, fühlte sich Fini wertvoller. Der Großvater hatte eine Überraschung für sie, nur für sie! Was mochte in dem Taschentuch eingewickelt sein? Stricken konnte der Großvater nicht und neue Schuhe konnten es auch nicht sein. Es wurden die Schuhe der älteren Kinder aufgetragen. Schuhe gab es frühestens bei Schuleintritt, das wusste Fini. Langsam näherten sich ihre Hände und befühlten das Taschentuch. Etwas Hartes, Eckiges verbarg sich darin.

      „Willst es nicht aufmachen?“

      Ungeduldig zupfte Franz am Ärmel seiner Schwester. Selbst nachsehen traute sich der Franz nicht. Zu streng war der Blick des Großvaters gewesen, als er nach dem Geschenk gegriffen hatte. Zeit ließ sich Fini, viel Zeit. Vorsichtig schlug sie den einen Zipfel zur Seite, dann den anderen Zipfel. Langsam, ganz langsam drehte sie das Geschenk herum und breitete das Tuch auf. Ein Mamapferd und ein Pferdekind lagen vor ihren staunenden Augen.

      „Danke, Großvater, danke!“

      Die Arme des kleinen Mädchens streckten sich nach dem Großvater. Zu weit oben war sein bärtiges Gesicht, zu weit unten saß die kleine Fini. Behutsam nahm der alte Mann das Mädchen hoch und Fini schmiegte sich an ihn.

      „Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp!“

      Fini nahm die Pferde in ihre kleinen Hände. Die Pferdemutter, im festen Griff der starken rechten Hand, und das Pferdekind in der linken Hand, die durch die Kinderlähmung noch immer schwach war, galoppierten im Takt der Melodie.

 

*

Das Mondlicht drang durch das kleine Fenster der Kammer, die sich Alosia und ihre Kinder mit ihrer Ziehschwester Agnes teilten. Tief und fest schliefen Franz und das Baby Mitzi. Fini konnte nicht schlafen, zu aufregend war der Tag gewesen. Ganz still lag Fini, hörte die Atemzüge der Geschwister und ein leises Wispern.

      „Meinst nicht, dass es langsam Zeit wird zu heiraten.“

      „Ich zieh nicht zu seiner Mutter auf den Hof.“

      „Wenn der Franz dich heiratet, muss sie den Hof übergeben.“

      „Den Hof übergeben? Niemals wird der Franz den Hof bekommen, seiner Mutter ist das Erbrecht egal. Die hat ihren neuen Mann und die hat ihr neues Kind. Auch wenn er der Jüngste ist, glaub mir, er wird den Hof bekommen.“

      „Was wollt ihr dann machen?“

      „Wir werden uns einen eigenen Hof kaufen. Du kennst die Leute vom Fuchs. Der Bauer hat den Hof heruntergewirtschaftet. Der Franz meint, dass der Bauernhof Fuchs bald verkauft werden muss, und mit meinem und seinem Erbteil können wir den Hof anbezahlen. Den Rest müssen wir bei der Bank aufnehmen. Das Geld bekommen wir, da ist sich der Franz sicher, so ein Bauernhof hat seinen Wert.“

      Fuchs, Fuchs, klang es in Finis Ohren. Fini mochte Tiere. Küken, die sich flaumig in ihre Händchen schmiegten, Kälbchen mit ihren großen Augen, quiekende Ferkel und Kätzchen. Fini mochte Tiere, vor allem Tiere, die klein waren. Ein Fuchs gehörte nicht dazu. Füchse kamen in der Nacht und holten Hühner ab. Es gab dann immer ein Gezeter und Gekreische. Der Hund bellte. Tante Viki, Tante Agnes, Mama und Opa rannten aus dem Haus, kamen nach einiger Zeit wieder, manchmal erleichtert, manchmal bedrückt. Und nun wollte die Mutter mit ihnen auf einen Bauernhof ziehen, der Fuchs hieß, ob das so gut war? Fini hatte ihre Bedenken. Aber es klang auch spannend. Ein anderer Bauernhof. Ein Bauernhof, wo die Mutter die Bäuerin war, der Vater der Bauer und der Franz, die kleine Mitzi und sie würden die Fuchskinder sein.

 

      „Fuchskind, Fuchskind, ich werde ein Fuchskind.“


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