Ute Stefanie Strasser

 

 

Gutleut

 

Wo man hinkommt, wenn man fort geht.

 

 

Sie verlässt ihre Heimatstadt und arbeitet als Lehrerin im Mürztal und in Wien, doch bald zieht es sie weiter, hinaus in die große Welt. Und wie es ihr dort erging und noch ergeht und wie es um ihre Heimkehr in die kleine Welt steht, das erzählt sie sehr abwechslungsreich im nun vorliegenden Band Gutleut.

 

 

(1) In der neuen Welt und um die Welt

 

Von grauen Schachteln und Taschentüchern; billig ist wichtig; Erdbeeren im Februar; von Augen und Namen und einer deutschen Party; von einer Schutzengel-Perücke und einem aufdringlichen Schweizer; von Accra bis Teheran; Wanda und ich lassen ein Haus verschwinden; das Anemone-Experiment; das Grauen vor Karriere und Weltbreite.

 

Ich wollte fort, nur noch fort wollte ich. Ich war neunzehn Jahre alt. Weg und hinaus wollte ich aus der kleinen Stadt im grünen Land. Vier Jahre lang war ich unterwegs, konnte – wollte nirgendwo bleiben: nicht im liabn Graz, nicht im lieblichen Mürztal, nicht im großartigen Wien und nicht im mondänen Montreux. Es zog mich immer weiter und schließlich nordwärts in eine große Stadt. Dort strandete ich – nein, ich strandete nicht, ich landete, denn da hatte ich ja hingewollt. Und ganz wörtlich landete ich: ich saß in einem Flugzeug, das im Januar 1971 auf einer Landebahn des Frankfurter Flughafens aufsetzte.

    In die Stadt hinein fand ich noch nicht, hier strandete ich tatsächlich in einem Vorort. Grau, so grau war Kelsterbach – grau im Grau. Grau waren die Gebäude, grau waren die Straßen, grau war der Himmel – graues Grau, jeder Tag grau. Grauslich! Farbig waren nur die Reklametafeln: Männer auf braunglänzenden Pferden, die Wiese grün, der Himmel blau, rot ist die Marlboro-Schachtel. Und rot sind die Pfeile, die die Bremslichter der Autos durch das Morgenduster schießen, wenn ich mit dem Omnibus zu den grauen Schachteln neben dem Flughafen fahre. Dort steige ich aus und gehe in eine Schachtel hinein und lerne mit etwa zwanzig anderen, wie man einen Cocktail mixt und serviert, wie man eine volle Spucktüte unauffällig entsorgt, wie man eine Schwimmweste anlegt, wie man die Notrutschen ausfährt und so weiter, und wie man bei all diesem Tun lächelt, nicht dümmlich sondern freundlich zugewandt lächelt! Erst wenn man dieses leichte Zittern in den Wangen spürt, zum Beispiel nach der Begrüßung des fünfzigsten Passagiers am Eingang – Guten Tag Guten Tag Guten Tag … – darf man das Lächeln kurz unterbrechen. Und wie wir es aufrechterhalten können, selbst wenn wir müde sind, Bauchschmerzen haben, uns die Füße wehtun oder wir womöglich schon mit dem linken Fuß aufgestanden sind, also wie wir das schaffen, dieses immerwährende freundliche Lächeln, zu dem uns unser zukünftiger Job verpflichtet, das üben wir jetzt sechs Wochen lang.

    Dieses Lächeln ist übrigens noch immer aktuell: 2017 heißt es in einem SZ-Artikel Stewardessen müssen lächeln (Burfeind). Und ein weiterer SZ-Artikel aus dem Jahr 2018 heißt sogar Lächelzwang (Wedemeyer), und darin steht, die Arbeit an Bord eines Flugzeuges sei trotz Schichtdienst, Jetlag, Strahlenbelastung und schwierigen Gästen auch heute noch ein Traumjob.

Träumt weiter!

 

Mittags gehe ich von der Schulungs-Schachtel in die Kantine-Schachtel und nach einem bescheidenen Mahl zurück in die Schulungs-Schachtel, in der sich unter anderen auch Räume befinden, die aussehen wie das Innere einer Boeing (737, 727, 707, 747). Am späten Nachmittag gehe ich dann aus der grauen Schachtel-Siedlung hinaus ins Trübe zur öden Busstation, stehe dort herum und steige schließlich in den Omnibus, mit dem ich wieder entlang bunter Reklametafeln ins graue Kelsterbach fahre. Dort gehe ich in meine Behausung über einer Garage neben einem achtstöckigen Wohnhochhaus aus den Sechzigerjahren. Ich hause auf einem PVC-Fußboden, grau meliert, und schaue durch das Fenster im vergilbten Rahmen auf eine Tunnelausfahrt. Mein Hab und Gut ist in einem – nein, nicht grauen sondern braunen Papp-Koffer. Es ist der Koffer, der dort im Feenthal im Holzhaus am Fichtenwald mit Dokumenten und ein paar Kleidungsstücken gefüllt unter meiner Mutter Bett lag, bereit zur Flucht, falls demnächst ein Blitz in eine Fichte fährt, die dann als brennende Fackel auf unser Haus fällt; im Winter könnte dies eine von der Schneelast abgedrückte Fichte tun und dadurch eine Katastrophe auslösen, welcher Art genau beschrieb mir meine vorsorgliche Mutter nicht weiter. Da meine Eltern mittlerweile in einem Haus lebten, das durch herabstürzende Fichten nicht gefährdet war, ist dieser nun quasi stellungslose Koffer mit mir ausgewandert, diente mir als Fluchtkoffer, wenn man so will, und dient mir jetzt als Kleiderschrank. Darin liegen zwischen meiner bescheidenen Garderobe weiße Taschentücher, von meiner Mutter gelb rosa hellblau umhäkelt, frisch gewaschen und gebügelt. Warum ich diese Taschentücher erwähne? Ich erwähne sie, weil ich mich damit bedeutenden und weniger bedeutenden Literaten an die Seite stellen kann. Denn in Romanen und Erzählungen kommt beinahe immer irgendwann ein Taschentuch, auch als Schnupftuch Schnupptuch Schnäuztuch Rotzfahne Nastuch oder dergleichen, zum Vorschein. Das Taschentuch als literarisches Accessoire. Wer Feenthal und/oder Thorburg gelesen, weiß das schon, für die anderen ein paar Beispiele:

    Im Tristram Shandy zieht zu Beginn des zweiten Kapitels der Vater des Ich-Erzählers mit der linken Hand aus seiner rechten Rocktasche ein gestreiftes indisches Taschentuch; in der Neuübersetzung des Buches von Michael Walter wird daraus ein gestreiftes ostindisches Seidenschnupftuch.

    Tolstois Hauslehrer Karl Iwanowitsch hat dagegen nur ein einfaches kariertes Taschentuch aus grobem Stoff. Es liegt neben ihm auf dem Tischchen, wenn er mit einem Buch im Lehnsessel sitzt. Er verwendet es nicht nur zum Putzen seiner Nase sondern auch zum Putzen seiner Brille und zum Trocknen von Schweiß und Tränen. Überhaupt haben Taschentücher in Tolstois Erinnerungen ihren festen Platz. Einmal wird sogar ein Hund an die Taschentuch-Leine genommen; das muss ein großes Taschentuch gewesen sein.

    In Wolpertinger von Alban Nikolai Herbst macht sich eine Frau Pomposiewitz an ihrem Handtäschchen zu schaffen und: schniefte erst, schnäuzte dann, wischte voll Inbrunst, steckte `s Tücherl weg. Ein paar Seiten später sucht sie in ihrer Handtasche zerfahren und leicht aufgeregt nach einem Tempotaschentuch. Ob Frau Pomposiewitz tatsächlich ein Stofftaschentuch und Papiertaschentücher in ihrer Handtasche mit sich trug? Oder hat sich der Autor hier geirrt? Im Traumschiff schildert derselbe Autor ausführlich, wie es einem Herrn Lanmeister, der in einem Altenheim, das er für ein Kreuzfahrtschiff hält, im Rollstuhl sitzt und auf seinen Tod wartet, wie es diesem Herrn Lanmeister doch tatsächlich gelingt, ein Taschentuch zu mopsen, und wofür er das Taschentuch haben will, denn, so viel sei verraten, schnäuzen will er sich nicht damit.

    Bei Julio Cortázar wird dem Autor von seinem sonderbaren Schlumpf im Haus das Batisttaschentuch entrissen.

    Friederike Mayröcker freute sich besonders über “ein Taschentuch“ von Oswald Tschirtner, und erzählt außerdem, dass sich Sabine Groschub als Kunststickerin auf SACKTÜCHER übte.

    Auch im Kolportageroman fand ich das Taschentuch. Lesen tu ich so etwas ja nicht, aber zufällig, ganz zufällig, beim Einstellen von mir aussortierten Büchern in einen öffentlichen Bücherschrank geriet mir ein solcher Roman in die Hand. Ein Welt-Bestseller, mit dem sich alle möglichen Leute in allen möglichen Tageszeitungen beschäftigt haben, die Soziologin Eva Illouz sogar in einem Buch. Aus reiner Neugierde nahm ich nun diesen Welt-Bestseller an mich und trug ihn einen Tag lang durch die Stadt (ich hatte einiges in verschiedenen Stadtteilen zu erledigen). Darin fand ich beim gierigen Schmökern während der U-Bahn-Fahrten: Grey reicht mir ein frisch gewaschenes Stofftaschentuch mit Monogramm. Und ein paar Seiten später stand da: Ich rolle mich zusammen, Taylors Taschentuch an meine Brust gepresst. Ich hatte keine Lust alle sechshundert Seiten des ersten Bandes von Fifty Shades of Grey zu lesen, legte das Buch nach getanem Schmökern wieder zurück, woher ich es genommen, doch ich bin sicher, dass man darin noch mehr Taschentücher finden kann.

    Zu den Kolportageromanen möchte ich noch anmerken, dass das Taschentuch hier besonders leicht den Übersprung von der zweiten in die dritte Dimension schafft, heraus aus dem Text hin zur Leserin, die gerührt ein Taschentuch zieht.

 

Genug von den Taschentüchern, zurück zu meinem braunen Papp-Koffer. Wie bereits gesagt, der Koffer ist mein Kleiderschrank. Eine Matratze auf dem Boden ist meine Liegestatt, sitzen tu ich auf einer Weinkiste vor einer Weinkiste – Stuhl und Tisch. Hinter dem Zimmer mit Koffer, Matratze und den beiden Weinkisten ist rechts eine Kochnische mit Herd und Kühlschrank und links eine Dusche mit Klo und Entlüftungsschacht. Düster und schäbig ist diese meine Unterkunft, aber billig. Billig ist wichtig, denn ich musste davor drei Wochen in einer Pension wohnen und habe schon viel vom mitgebrachten Ersparten verbraucht, muss jetzt also sparsam sein.

    Zum Frühstück esse ich ein Butterbrot mit Marmelade und trinke eine Tasse Sackerltee; ein Sackerl kann man zweimal mit Heißwasser aufgießen. Biss Schluck Biss Schluck, ich kaue bedächtig, ich schlürfe genussvoll, es schmeckt mir. Es schmeckt mir, weil ich dabei an die Hungernden auf der Welt denke. (Biafra! Schon vergessen?)

    Mittags esse ich in der Kantinenschachtel und abends, wenn mein Magen vom Kantinenessen nicht noch irritiert ist, esse ich ein Butterbrot mit Schnittkäse. Alle paar Tage gehe ich zu Schade & Füllgrabe und kaufe ein. Nicht immer widerstehe ich den Supermarkt-Verlockungen, denn diese Selbstbedienungsläden, wie sie damals hießen, waren neu für mich, ich hatte noch nicht gelernt mich gegen das Riesenangebot von Waren zu wehren. Ich kaufe mir Erdbeeren im Februar, weil: für einen Österreicher gibt es kein stärkeres Armutsempfinden, als wenn er sich nicht mehr das leisten kann, worauf er grad einen Gusto hat (Sargnagel), und esse sie noch am selben Abend auf. Zum Ausgleich meines Budgets gehe ich am nächsten Tag nicht in die Kantine, sondern esse mittags ein mitgebrachtes Käsebrot und abends, damit ich etwas Warmes in den Magen kriege (die Wichtigkeit dieses Vorgangs hat mir meine Mutter eingebläut), eine Maggi-Suppe. Es gab verschiedene Sorten zur Auswahl: Pilzsuppe Hühnersuppe Tomatensuppe, jeweils als Pulver in der Papiertüte für ungefähr eine Deutsche Mark; die Fünf-Minuten-Terrine war noch nicht erfunden. Das Pulver streue ich in den Topf mit heißem Wasser, umrühren, fertig. Ich bin mit dieser Art der Essenszubereitung eine würdige Nachfahrin meiner Großmutter Ama, die mit ihrer Schnellküche eine Vorläuferin der Fast-Food-Bewegung war. Zur Suppe esse ich ein Stück Brot, und ich löffle sie gleich aus dem Topf, da muss ich kein/keinen Teller abspülen. (Immer dieser Konflikt zwischen dem österreichischen und dem deutschen Deutsch!) Irgendwie bin ich danach schon noch hungrig. Ich lebe im Mangel, Stoßgebete helfen nicht – Gott will mich arm. Immigrantenschicksal, selber schuld, heißt es doch: Bleibe im Lande und nähre dich redlich (Psalm 37/3). Wir, meine Generation, wir kennen diesen Spruch, in das dritte Jahrtausend, der Ära der vielgepriesenen Mobilität, passt er nicht mehr so recht.

    Aber macht nichts, lieber ein wenig hungern als zunehmen. Bei der Deutschen Lufthansa gibt es für Stewardessen nämlich so eine Vorschrift: Größe minus ein Meter und minus zehn Kilo; ich bin einssechsundsechzig und darf demnach nicht mehr als 56 Kilogramm wiegen. Beim Einstellungsgespräch und am Beginn des Ausbildungskurses wurden wir gewogen, am Ende des Kurses wird unser Gewicht noch einmal überprüft werden. Außerdem: Ein wenig Hungern habe ich schon in Österreich gelernt, denn in den Sechzigerjahren war das Anfangsgehalt einer Grundschullehrerin dürftig. Wenn ich Geld für Fahrkarten oder für ein Kleidungsstück ausgegeben hatte, war nur noch wenig übrig und ich aß einige Tage lang Marmeladebrote – morgens mittags abends, dazu Sackerltee – Schwarztee oder Minze Früchte Kräuter. So etwas wie ein Girokonto und die Möglichkeit es zu überziehen, gab es zu der Zeit noch nicht. Ach ja, meine schöne Jugendzeit!

 

...


Berichte / News

Website design by Tirom