Der Sturm erhob sich zu einem Orkan und gefrorene Regentropfen peitschten mein Gesicht. Der Camino versuchte mich abzuwerfen. Bist Du es wert auf mir zu wandeln? Ja, stieß es mit voller Wucht aus meinen Lungen, und die Eiskörner formten sich zu Tränen die über meine Wangen rollten.
Eine Dame hat mich gefragt: „Spürst du den Camino?“ Noch nicht so richtig, meine Antwort, etwas verloren und unsicher. Darauf Sie: „Du wirst ihn spüren, da bin ich mir sicher. Jeder spürt ihn, auf seine Weise. Der Camino lebt und du bewegst dich auf etwas lebendigem, wie ein Baby in den Armen seiner Mutter. Du sehnst dich nach der Wärme und du fühlst es, wenn sie dich verlässt. Solange dieses Gefühl bei dir ist, wirst du dich nie verlaufen.“
Ich erreiche die Hochebene von Atapuerca. Nebel und Einsamkeit begleiten mich über dieses karge, felsige Gebiet. Es ist vor allem diese Bitterkeit, die das Hochland umschließt und es darauf anlegt, wahrgenommen zu werden, die viel tiefer in die Menschen eindringt als Landstriche, die mit Überfluss prallen dürfen. Ergreifend sind auch die Stille und diese wenigen Meter an freier Sicht. Absolute Stille, die hörbar wird. Hörbar nicht für die Ohren, aber für die Seele und den Geist.
Ich genieße das Erwachen des Tages in vollen Zügen, er führt mich raus aus Burgos, durch Parks und wunderschöne Gartenanlagen. Der westliche Teil von Burgos ist so konträr zu seiner östlichen, von der Industrie verstellten Welt. Ich sehe auch die Unbeschwertheit, mit der Gina vor mir herlaufend über die Kieselsteine tänzelt, eingenommen vom mächtigen Rucksack, erkennbar an ihren Beinen und den zur Seite gesteckten Armen.
Ein Abend in Castrojeriz, bei Mia und Mau, in Ihrem in liebevoller Kleinarbeit geschaffenen spirituellen Panoptikum. Ein Schmuckstück, das lebt, das die Zeiten überdauert hat und das es verlangt, gesehen zu werden. Mia und Mau gestatten mir einen Einblick in die Seele der alten Stadt, in Spaniens Vergangenheit. Sie hüllt mich ein und hält um mich inne, dringt in mich und löst die Schranken, die mich davor bewahren, in sie gezogen zu werden. Mir ist, als spürte ich den Geist meiner Vorfahren, die Seelen verstorbener Pilger oder einfach nur mich selbst in einer anderen Zeit, einer dunklen und längst vergangenen Zeit.
Staub umschließt meine Schuhe. Ab und zu ist es Schweiß, der in Tropfenform auf das Leder fällt und ein kleines Muster zeichnet. Und wieder ist es Staub der es zum Verschwinden bringt. Der Zufall hat viele Kilometer Zeit, das Schauspiel zu wiederholen und es neu zu formen.
Ein Kanal begleitet mich die letzten Kilometer bis nach Fromista, von Menschenhand gegraben und nie seinem Ursprung gerecht werdend. In der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde der Bau in Angriff genommen und seine Fertigstellung kollabierte mit der Eroberung des Landstrichs durch die Eisenbahn. Vom ursprünglichen Transportwert blieben ein wenig Energiegewinnung und die Bewässerung der ansonsten trocken daliegenden Felder.
Ich bin jetzt zweieinhalb Wochen auf dem Camino, mir begegnet nur Freundlichkeit, mein Geist bleibt verschont von Gewalt. Es sind Gefühle der Wiege, die meinen Körper durchströmen, so stark und ergreifend, wie ich es noch nie zuvor empfunden habe. Sie geben mir etwas wieder, was ich mit dem Erwachsenwerden verloren habe und was ich durch materiellen Aufwand nie im Stande sein werde zu erlangen.
Ein Gänseblümchen, das der Widrigkeit und Trockenheit des Weges trotzt und sich emporhebt, schwer erkennbar, zur Freude der vorbeiziehenden Pilger. Es verharrt hier vermutlich schon seit Wochen und jedem der Tausenden Füße, die hier entlang kamen, war es sichtbar, unbewusst oder bewusst, sie haben es verschont, vor der Last der Menschheit, die sie zu tragen verurteilt sind. Eingefangen in meine Kamera und nicht des Weges beraubt, trage ich es mit mir und lasse es dennoch für alle Nachkommenden in seiner Zartheit blühen.
Den schweren Fahrzeugen bleibt die Weiterfahrt durch ein altes, steinernes Stadttor versagt. „Las Mulas“ heißt übersetzt „Maultiere“ und Mansilla erfuhr seine Blüte im 12. Und 13. Jahrhundert. Seinen Beinamen erhielt es von den Viehmärkten in der Stadt. Von der einst wichtigsten Marktgemeinde dieser Region blieb nicht mehr als ein 1900 Einwohner beherbergendes Städtchen.
Die wenigsten unserer Vorsätze und Ideen werden wir durchführen. Wir legen sie ab in den unzähligen Schubladen unseres Gehirns, und sie werden in Vergessenheit geraten. Bei mir ist es nicht anders, aber dann sprang eine dieser verschlossenen Laden auf, als sich der Weg in meinem Leben zu schließen begann, und öffnete mir einen neuen Weg, der 25 Jahre darauf gewartet hatte, gegangen zu werden. Anfangs war ich unsicher und viele Bedenken arbeiteten daran, die herausgesprungene Schublade wieder einzuhaken, aber es hüpften weitere aus ihrer Verankerung, nein, sie wurden herausgerissen, um ja nicht wieder geschlossen werden zu können. Heute halte ich einen Schlüssel bei mir, und von Zeit zu Zeit öffne ich eine Lade.
Neuerlich meine ich, getäuscht zu werden in meiner Wahrnehmung. Diesmal ist es der tänzelnde Gang eines Mädchens, das gerade hinter einer Biegung verschwindet. Neugierig strecke ich meinen Kopf empor, in der Hoffnung, dadurch über die Büsche entlang der Kurve blicken zu können. Die Spannung hält an, während ich mit weiterhin hochgestrecktem Kopf die Krümmung zu Ende gehe. Jetzt lüftet sich das Geheimnis, es ist Shuran.
Zu einer Kette angelegte Steine begleiten mich auf dem Weg. Fragmente von Mauern, aufgehäufte flache Steinplatten, gehalten nur vom eigenen Gewicht und über die Zeit befreit von Mörtel. Teilweise eingestürzt oder umgeworfen von Menschenhänden oder umgetreten von Füßen. Pilgerfüßen?
Halb verfallene Häuser begrüßen mich und halten den Eindruck von Einsamkeit aufrecht. Oder ist es Trauer, sind es Bilder der Sterblichkeit, die mir vor Augen geführt werden? Etwas Geisterhaft und doch lebendig, davon zeugen Stromleitungen, die auf Masten entlang der Straße führen und ungeordnet in einem wirren Geflecht an die Häuser reichen.
Das Wasser ist knapp geworden und es kocht beinahe. Ich trinke nur noch kleine Schlucke und dehne die Abstände, in denen ich sie zu mir nehme, immer weiter aus. Würde ich wegen eines Hitzeschlags oder vor Erschöpfung zusammenbrechen, niemand würde mich heute noch finden. Vielleicht morgen, wenn ein neuer Pilgerstrom einsetzt, um auf den Cruz de Ferro zu gelangen, oder bin ich dann bereits eingewachsen in die Natur, die mich umgibt.
Es ist 7 Uhr, als ich Rabanal verlasse und das Sonnenlicht schiebt sich langsam an den Mauern abwärts. Eine Amsel stolziert in sicherem Abstand entlang des Weges. Ich folge ihr mit sanften Schritten und dann hebt sie ab, steigt empor und gleitet mit gelegentlichem Flügelschlag über die tiefen Einschnitte entlang des üppig bewachsenen Gebirges.
Auf der Terrasse die zu einem Delikatessenladen gehört genieße ich Baguette und Schinken. Kleine Vögel beobachten mich und picken sofort die Krümel auf, die beim Abreißen der Brotteile auf den Boden fallen. Tauche man die Krallen der Vögel in Farbe, so würden sie bestimmt ein interessantes Bild hinterlassen. Ein Kunstwerk, das Fragen in die Gesichter der nachkommenden Pilger werfen würde.
In dieser idyllischen Albergue lerne ich Bettina kennen. Sie sagt mir: „Ich habe mich für den Camino Francés entschieden, um vergeben zu können. Den Leuten, die es im Grunde nicht wert sind, dass man ihnen vergibt, und dennoch erfüllt es mich mit Erleichterung. Es macht mich frei, ich entziehe mich ihres Einflusses, jeden Tag ein kleines Stück, und die Schmerzen werden erträglich. Ich lerne, ihnen zu vergeben, und entrinne somit ihrem Einfluss. Man muss nicht immer neue Welten erschaffen, manchmal ist es schön, einfach nur darin zu leben.“
Es dauert bis ich Ponferrada durchlaufen habe. Wieder eine alte Stadt, die viel zu erzählen hat, geformt von Abermillionen Menschen in den Jahrhunderten vor meiner Zeit und ständig wird an ihr weitergefeilt. Nie wird die Stadt Ruhe finden und nie wird sie vollendet sein. Still und bewegungslos liegt sie vor mir, als rühre sie sich nicht, und sollte ich einmal zurückkehren, wird sie sich verändert haben.
Viele kleine Ortschaften säumen meinen heutigen Weg. Mais wird im Garten angebaut, Felder, die nicht größer als zehn mal zehn Meter sind. Vor einem garagengroßen Handwerksbetrieb fertigt ein alter Mann Schindeln für die Dächer der Häuser an. Weingärten im Ausmaß eines Steinwurfs und dann sind da noch diese unzähligen Kirschbäume, und ständig grüßen mich die Bewohner dieses Landes.
Villafranca ist eingebettet in ein Gebirgsmassiv zu Fuße des Cebreiro-Passes und die Häuser schmiegen sich viele zig Meter am felsigen Untergrund empor. Das lebhafte Zentrum befindet sich in der Senke und meine Herberge für diese Nacht wacht hoch darüber.
„Natürlich machst Du das Richtige“, mischt sich ein Mann in unser Gespräch. „Man muss sich nicht fünf Wochen ausnehmen lassen auf dem Weg nach Santiago, es genügen auch zehn Tage, und die Urkunde die du erhältst, ist die gleiche.“ Ich antworte nicht darauf und entschuldige mich für einen Besuch in der Dusche.
Eine Träne fließt über ihre Wange. Ich halte sie mit meinem Zeigefinger auf. „Ich will das nicht“, sagt sie und ich entschuldige mich. Ich weiß selbst nicht, was mich dazu gebracht hat, ihr so nahe zu kommen.
Welch Anblick, welch Schönheit und Ruhe, die mich umgibt. Könnte doch die ganze Welt einen Blick darauf werfen, welche Wirkung hätte es auf die Menschheit? Würde es sie zähmen, sie zurechtweisen in ihren Taten? Manche vielleicht; anderen wiederum würde die Gier befehlen, Zäune darum zu bauen, um aus diesem Wunder der Natur Geld zu schöpfen.
Die Türen und die Fenster der Albergue rechts von mir sind weit geöffnet. Sie schöpft frische Luft für die Pilger, die auch heute wieder kommen werden, und entledigt sich des Geruchs ihrer bereits losgezogenen Besucher der Nacht zuvor. Links eine Kirche, daneben zwei Frauen und drei Männer. Einer rüttelt an der verschlossenen Tür. Ein zweiter tritt heran, er zweifelt anscheinend an den Kräften des anderen. Das Tor bleibt verschlossen.
„Ja, ich habe den Berg an seiner intimsten Stelle berührt und die Bäume haben sich gegen den Himmel gestreckt, aus Leidenschaft und Ekstase. Ich konnte spüren, wie sich tief in ihm die Steine zurechtrückten, sich Spannungen lösten, die ihm Unbehagen bereiteten, und wie er sich jetzt wie neu geboren fühlt.“ Das wäre meine Antwort gewesen, hätte mich jemand danach gefragt.
Ich genieße es, dass mich von jetzt an nur noch Bäume begleiten, um mir Schatten vor der gleisenden Sonne zu spenden. Mir ist auch bewusst, dass es die letzten stillen Momente auf meiner Reise sein werden, und ich versuche, sie nochmals in vollen Zügen zu genießen.
Einheimische waschen ihre Wäsche am Fluss und werden zur Attraktion. Scheinbar etwas ganz Banales, doch unter den Blicken der vorbeiziehenden Menschen etwas Befremdendes. So mutiert Einfaches und Gewöhnliches zu Sonderbarem und Exotischem. Ich durchstreiche nicht nur Provinzen und Regionen, ich durchstreiche Sinne und Wesenszüge. Tauche ein in das Grundlegende und dabei spielt Zeit keine Rolle. Zeit gibt es nur für die Menschen, sie wurde für sie erfunden, um ihre Ungeduld und Unruhe zu stillen.
Ich werde mir heute noch die Beichte abnehmen lassen. Ich werde vor den Pfarrer treten, er wird mich nach meinen Sünden fragen und ich werde mich keiner erinnern. Mir wird bewusst werden, dass sie verloren gegangen sind auf dem Weg hierher. Ersetzt durch neue Erinnerungen, schön und warm fühlen sie sich an.