Reinhard Holzegger

 

Das Land Dichavere

 

Roman

 

Tirom-Verlag

 

Originalausgabe 2021 in deutscher Fassung

 

Erschienen im Tirom-Verlag, Österreich

© Reinhard Holzegger »Das Land Dichavere«

Umschlaggestaltung von Reinhard Holzegger

Gebundene Ausgabe in deutscher Sprache

 

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Tomás

 

Sein Onkel Leonidas, die meisten Kunden nannten ihn Leo der Löwe, hatte einen kleinen Buchladen am Ende der Calle 7a Poniente, kurz bevor sie wie ein kleiner Bach in einen Fluss in die Avenida 8a Norte mündete. Viele Jahre war der Buchladen nun schon geschlossen, nachdem sie den Onkel eines regnerischen Nachmittags abgeholt hatten, unter dem Vorwand, ihn zu einer Preisverleihung zu begleiten, ihm zu Ehren ins Leben gerufen von den Gelehrten der Stadt Seramis. Man hat ihn nie wieder gesehen.

    Vor ein paar Tagen verschaffte sich Tomás heimlich Zutritt zu dem in seiner Fassade abgewitterten und schmucklosen zweigeschossigen Gebäude, in dem sich nach wie vor die Bücher seines Onkels befanden. Noch von der Hand Leonidas geordnet, standen sie in exakter Linie in den Regalen, doch eines drängte sich hervor, als wolle es nicht zu den anderen gehören. Auf dem Buchrücken war zu lesen: Das Land Dichavere. Er zog das Buch vorsichtig heraus. Ein harter Bucheinband ohne Umschlag. In der Mitte des Frontdeckels stand nochmals der Titel des Buches in mächtigen goldenen Lettern, weiter nichts. Kein Autor, kein Verlag, der sich kundgab. Er drehte das Buch und begutachtete den Rückendeckel. Auch hier stand nichts, nur das kräftige rubinrot, das dem Buch seine Farbe verlieh.

    Tomás klappte das Buch auf, so in der Mitte und ließ die Blätter über seinen Daumen bis zum Frontdeckel laufen. Ein erdiger Geruch drang in seine Nase. Auf dem ersten Blatt las er: Für dich Pablo. Tomás schlug das Buch zu, setzte es unsanft und zittrig an seinem angestammten Platz ab. Pablo, das war sein Name, nicht der Name, mit dem ihn alle Leute kannten, nein, Pablo war er, wenn er alleine war, wenn er sich unbeobachtet meinte, wenn er in Gedanken die Welt durchleuchtete. Nicht einmal seine Eltern wussten davon, es war einzig und allein sein Name, keinem guten Freund würde er davon erzählt haben, sollte er je einen gehabt haben, und keinesfalls konnte sein Onkel davon gewusst haben. Was ging hier vor?

    Mit zerzausten Gedanken drehte er vorsichtig sein Gesicht in Richtung Buch. Wieder stand es ein, zwei Zentimeter vor den übrigen Büchern. Er starrte darauf, dann packte er es von Neuem, umschlug es mit seiner Jacke, rannte den Buchladen hoch bis ins Dachgeschoss und stolperte so hastig aus der Dachluke, dass er beinahe vom Dach gefallen wäre, hätte sich seine Jacke mit dem Buch darin nicht am Eisenhaken, der das Lukenfenster verschlossen halten sollte, verhakt. Mit der Geschwindigkeit einer Echse hangelte er sich rückwärts die Dachrinne hinab und rannte die Straßen entlang nach Hause.

 

Seine Mutter rief ihn zum Abendessen. Sie musste ihn gehört haben, wie er die Stufen hinauf in sein Zimmer gerannt war, nicht leise, obwohl er es hätte sein sollen, in Anbetracht des Diebesguts, das er in seiner Jackentasche vergraben hatte. Die Stimme der Mutter klang dünn, als hätte man eines jener Gläser, die zu singen beginnen, wenn man sie am Rand befeuchtet und seinen Finger mit leichter Berührung darüber gleiten lässt, zerbrochen und wieder zusammengeklebt. Ja, er hatte den Klang ihrer Stimme geliebt, in den Tagen, als sie ihm noch vorlas, wenn er nicht einschlafen konnte. Es war nicht von Bedeutung, was sie ihm vorlas oder worüber sie zu ihm sprach, es war die sanfte musikalische Melodie in ihrer Stimme, die Ruhe in seine Gefühlswelt brachte, den Pulsschlag verlangsamte und das Blut gemächlich durch seine Adern fließen ließ.

    Das war früher gewesen, bevor auch seine Mutter gemeinsam mit seinem Vater abgeholt worden war, in jenen Tagen, als sein Onkel verschwand. Seine Mutter kam nach zwei Tagen wieder, vielmehr ihre Hülle, im Inneren fehlte etwas. Nach einer Woche wurde auch sein Vater zurückgebracht. Er sah schrecklich aus, als hätte man an ihm herumgekaut und ihn wieder ausgespuckt. Sein Vater war ein zäher, kräftiger Mann und seine Wunden heilten schnell, leider nur die oberflächlichen, die tieferliegenden wollten nicht heilen, und er sprach nicht mehr seit jenen Tagen. Wortlos führte er die Gabel mit seiner rechten Hand zum Mund. Sein linker Arm hatte aufgehört, ihm zu gehorchen, als hätte man ihn vertauscht, als wäre es der eines anderen, und ständig dieser Blick, als suche er nach seinem Arm. Dann schnappten die Zähne nach den Fleischstückchen, die ihm seine Frau zurechtgeschnitten hatte, in kleine kaubare Stücke. Öfters verschluckte er sich beim Essen. Der Speichel wollte nicht mehr recht den Gaumen befeuchten. Das Essen kratzte im Rachen, Hustenreiz überkam ihn. Es war nicht schön anzusehen. Tomás’ Mutter hielt ihm ein Tuch vor Mund und Nase.

 

Ihr Name war Elvira und wurde schon lange nicht mehr ausgesprochen in diesem Haus, Tomás sagte Mamá zu ihr, von ihrem Mann war kein Wort zu erwarten und sonst gab es niemanden mehr in ihrer Nähe. Der Bürgerkrieg hatte sie ihrer Jugend und ihrer Familie beraubt, nur ihr älterer Bruder Leonidas war ihr geblieben. Dann waren Jahre des Glücks gekommen, intensiv und verschwenderisch, als würden einem die gesamten je zu erwartenden Geschenke auf einmal überreicht werden. Gemeinsam mit ihrem Bruder wurde ihr von der damaligen Regierung ein Gebäude in der Stadt Seramis zugestanden. Entschädigungsfonds nannte man diese schnellen Billigungen. Ihr Bruder errichtete darin den Buchladen und sie arbeitete bei ihm. Sie lernte Antonio kennen, sie heirateten, sie kauften sich eines dieser vielen leer stehenden Einfamilienhäuser mit einem großzügigen Garten in einem der ruhigen Außenbezirke von Seramis und sie gebar ihren ersten und einzigen Sohn Tomás. Das Glück floss unbeirrt, kannte keine Zurückhaltung, ebbte aber nach wenigen Jahren ab. Ein abermaliger Wechsel in der Regierung ließ das Glück dann völlig aus ihrem Leben verschwinden, wie auch ihren Bruder Leonidas.

 

Leonidas brachte Tomás das Lesen bei. Tomás hatte bereits sein zweites Buch gelesen, bevor er die Schule besuchen durfte. Zuerst einen abgegriffenen Band mit gesammelten Märchen aus aller Welt aus seines Onkels Sammlung und danach die Abenteuer des Pinocchio von Carlo Collodi. Onkel Leo, so nannte er ihn, erklärte ihm einzelne Wörter oder auch ganze Sätze und machte ihm die Zusammenhänge der Geschichte verständlich, wenn ihm die Glaubwürdigkeit der Handlung partout nicht einleuchten wollte.

    Des Onkels Reich waren die Bücher. Als hätten seine Eltern von seiner Neigung geahnt, gaben sie ihm den Namen Leonidas, und wie ein Löwe wachte er über seine Bücher, und in seinem Buchladen verkaufte er nur dann ein Buch, wenn er spürte, dass der Käufer des Buches würdig war, es als etwas Besonderes erachtete. Für Leonidas waren Bücher Heiligtümer, jedes Einzelne musste geschützt und erhalten werden für die Nachwelt, auch wenn für ihn nur die Gegenwart von Bedeutung war, von der Gegenwart aus konnte man in die Vergangenheit und in die Zukunft sehen, ohne sie gab es nichts. Und doch war Leonidas Welt noch eine andere, eine, die sich vor den Blicken der Gesellschaft versteckt hielt. Nicht der Scheu wegen, nein, sie zog es vor, sich nur jenen Menschen zu offenbaren, in denen sie sich auszubreiten vermochte, die ihr Nährboden schufen, um weiterzuwachsen und tiefer vordringen zu können in ihren Geist und alles nach außen zu kehren, was diese Menschen daran hinderte zu begreifen. Nur wenigen ist es beschieden, das Tor zu dieser Welt zu finden. Leonidas hatte es vermocht, brauchte nur den Schlüssel zu drehen und konnte eintreten.

 

Drei Nächte schon glänzen die goldenen Lettern auf dem Buchrücken – Das Land Dichavere –, beschienen vom vollen Mond, der ungeniert durch das offene Fenster in Tomás’ Zimmer blickt. Auch heute wieder. Tomás liegt ausgestreckt auf dem Bett, die Hände unter seinem Nacken verschränkt mit Blick auf die leuchtenden Schriftzeichen. Ab und an schiebt sich eine Wolke vor den Mond und die Buchstaben verschwinden in der Dunkelheit, kurz darauf erstrahlen sie von Neuem.

    Tomás hatte das Buch nicht wieder aufgeschlagen. Im Internet konnte er zwar einige Wortspiele zu Dichavere finden, aber nichts, was sich auf geschichtliche Aufzeichnungen bezog, auch keine Hinweise dazu in diversen Religionen, sogar bei Sagen und Legenden hatte er nachgeschlagen. Eine Art Luftschloss also, wie auch er sich des Öfteren eines in seinen Träumen baute und das ihm dann näher schien als alles Wirkliche. War es das? Etwas Fantastisches, fern des Alltäglichen, Hirngespinst eines Schreibenden? Wer aber hatte Pablo in das erste Blatt geschrieben? Jemand der das Buch gelesen hatte und es dann verschenken wollte? Mit Sicherheit hatte sein Onkel das Buch gelesen, er hatte alles gelesen, was sich in den Regalen seiner Buchhandlung befand, das wusste Tomás. Stammten die Worte von seinem Onkel Leonidas, meinte er ihn damit, woher wusste er von Pablo? Tomás war sich sicher, diesen Namen, der wie ein Nimbus über ihn schwebt, niemandem gegenüber erwähnt zu haben. Nein, sein Onkel hatte das Buch erworben, mit der Inschrift darin, von einer Person für eine andere. Reiner Zufall, so muss es gewesen sein, Tomás war sich nun sicher, es erschien ihm auch plausibel und seine Stirn glättete sich.

 

Als Tomás das Licht der Welt erblickt hatte, war es eine Zeit des Voranschreitens, wo sich alles in Bewegung befand. Nichts stand still, außer der Atem des Neugeborenen. Auch wollte er keine neun Monate im Mutterleib warten, das Leben drängte und in wilder Hast kam er mehrere Wochen zu früh. Momente der hektischen Betriebsamkeit, der Ungewissheit, der hilfesuchenden Blicke im Tränenfluss. Tomás’ Lungenbläschen waren die einzigen, die es anscheinend nicht so eilig hatten. Die Alveolen mochten nicht offenbleiben und sich mit Luft füllen, sie sackten zusammen. Seine Haut färbte sich bläulich, Sauerstoff war dringend notwendig. Tomás hatte seinen Lungen nicht die nötige Zeit gelassen, um das lebensnotwendige Surfactant zu bilden. Dieses wurde ihm schließlich künstlich zugefügt und von da an schien alles mit doppelter Geschwindigkeit zu funktionieren, selbst sein Heranwachsen.

 

Es wird Zeit, das Buch aufzuschlagen ...


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